Die Enkel des Kolumbus - страница 6
Deshalb hatten unsere Versammlungen manchmal mehr den Sinn sich gegenseitig kennen zu lernen, zusammen Tee zu trinken und sich Geschichten zu erzählen. Aber das war mindestens genau so wichtig. Wir saßen in dem Gästezimmer gleich rechts hinter dem Haustor. Die zweite Eingangstür war verschlossen, damit die Gäste (Gäste sind immer Männer, weil Frauen nicht unterwegs sein können um Besuche zu machen) nicht in das Hausinnere schauen konnten, wo sich die Familie bewegt. Das Zimmer hatte die rötlich-braune Farbe des Lehms mit dem die Wand verputzt war. An den spiegelglatten Wänden entlang lagen große Kissen mit farbenfrohen Mustern, und ein großer roter Afghanteppich füllte den ganzen Raum aus. Durch ein kleines Fenster in der dicken Lehmwand fiel Sonnenlicht und erhellte kontrastreich einige Kissen. Wir saßen entspannt auf den riesigen Kissen und warteten auf das Erscheinen des Chans. Dann öffnete sich die grob geschnitzte Holztür, und er kam: ein alter Mann, gekleidet wie alle: ein langes Hemd über der Pluderhose, darüber eine kurze Weste, auf dem Kopf der Turban. Ein langer roter Bart zierte das spitze Gesicht. Natürlich gehörten auch über der Brust gekreuzte Patronengurte dazu, der dazu gehörige Revolver, und der riesige Pashtunendolch im Gürtel. Das war alles unabdingbarer Bestandteil der Kleidung und hatte nicht im mindesten etwas mit einem Misstrauen gegen uns zu tun.
Wir erhoben uns zur Begrüßung und erhielten einen warmen Händedruck. Ein klarer ruhiger Blick erfasste uns, ein unmerkliches Lächeln spielte in seinem faltigen Gesicht. Alle Bewegungen waren gemessen, würdig und stolz. Nach den rituellen Begrüßungsformeln (salemaleikum, zangai, djurli, chai, bachai…) bedeutete uns der Chan mit einer leichten Handbewegung wieder Platz zu nehmen. Mein Counterpart, Herr Navor Shah, sprach fließend Deutsch. So ging die Unterhaltung flüssig; die Übersetzungspausen empfand ich manchmal sogar als angenehm, da man Zeit hatte nachzudenken und zu beobachten während Paschtu gesprochen wurde, und es war leicht eine klare Antwort zu formulieren. Nach einem Jahr hatte ich mich so gut auf Paschtu eingehört, dass ich durchaus mitbekam, wenn etwas nicht gut übersetzt wurde (was bei Navor Shah nie der Fall war), obwohl ich nicht Paschtu sprechen konnte.
Und dann erzählte uns der Chan die viele tausend Jahre alte Geschichte, die alle Afghanen kennen. Wie das mit uns Afghanen war, damals, vor langer, sehr langer Zeit: „.. Die Zeiten waren schwer, weil die Berge nicht mehr alle ernähren konnten. Schnee und Eis kamen immer tiefer die Hänge herab, bedeckte alle Weidegründe, und die Viehherden litten Hunger. Auch das Volk litt Hunger, konnte so in den Bergen nicht mehr überleben. Da beschloss ein Teil des Volkes fortzuwandern, mit den Herden andere Weidegründe zu suchen, um zu überleben. Mehr als die Hälfte von uns wanderte los, nach Nord-Westen. Sie wanderten durch Steppen, Berge, Täler, Wälder, weiter, und weiter.
Das seid ihr, die Deutschen, unsere Brüder, die damals fortgingen. Ihr seid Arier, wie wir. Ihr seid Afghanen. Heute nennt ihr euch “Almaneidas” (Deutsche), aber ihr seid unsere Brüder. Und nun kommt ihr zurück zu uns, um uns zu helfen. Das ist wunderbar, das ist das Schönste, seid willkommen, wir freuen uns sehr!“
Ich war sprachlos. Wir schauten uns an. Das ist also die Geschichte, so wie sie von Generation zu Generation weitergegeben wurde, von Mund zu Mund, in den Hindukuschbergen, abgeschnitten von der Welt, in diesen Tälern die nie ein Ausländer je vor uns betreten hatte. Ich dachte an die letzte Eiszeit. So war es wohl gewesen, damals, vor 10.000 Jahren, in Afghanistan. Die Berge versanken Jahr für Jahr tiefer in Schnee und Eis, alles erstarrte in Kälte und Frost, und nur die tiefer gelegenen Talsohlen blieben frei.